Eine Geschichte von Leidenschaft und Know-how: Alessandro Zanardis Fahrsysteme von 2003 bis heute

Am 15. September 2001 verliert Alessandro Zanardi bei seinem Horror-Crash auf dem Lausitzring beide Beine – und beinahe sein Leben. Doch Zanardi kommt zurück, stärker als zuvor – im Falle von „Alex“ Zanardi stimmt die Floskel ausnahmsweise. Mit BMW hat der ehemalige Formel-1-Fahrer seit Jahren einen starken Partner an seiner Seite, der gemeinsam mit dem Italiener verschiedene Fahrsysteme entwickelte, um Zanardi diverse Tourenwagen für den Einsatz auf der Rennstrecke zur Verfügung zu stellen. Ein Überblick über die Entwicklung von Alessandro Zanardis Fahrsystemen von 2003 bis heute.

Nur zwei Jahre nach seinem Unfall im CART-Rennen auf dem Lausitzring (GER), bei dem er beide Beine verloren hatte, trat er 2003 in einem auf seine Bedürfnisse angepassten BMW 320i in der Tourenwagen-Europameisterschaft an. Seither ging er in verschiedensten Serien für BMW M Motorsport an den Start. Dabei perfektionieren er und die BMW M Motorsport Ingenieure die Systeme, die ihm das Rennfahren ermöglichen, immer weiter. Vom BMW 320i über den BMW Z4 GT3 und den BMW M6 GT3 bis hin zum BMW M4 DTM und BMW M8 GTE: ein Überblick über die kontinuierliche Weiterentwicklung der Modifikationen an Zanardis BMW Rennfahrzeugen.

 „Als ich aufwachte und wusste, dass ich keine Beine mehr habe, habe ich mir nicht die Frage gestellt: ‚Was soll ich ohne Beine machen?’ Sondern ich habe nur überlegt: ‚Okay, was muss ich tun, damit ich all das, was ich vorhabe, ohne Beine machen kann’“, erinnert sich Zanardi an die Zeit direkt nach seinem Unfall am 15. September 2001.

Zu diesen Vorhaben gehörte schon recht bald wieder das Rennfahren. Auch wenn er mit seinen Comeback-Plänen zunächst auf Skepsis stieß, denn ein zweifach Beinamputierter im Motorsport war etwas Neues: „Die Leute hatten Angst, dass mir etwas passieren könnte. Aber wenn ich mir das Bein breche, dann brauche ich nur eine Schraube, um es wieder zu reparieren“, erzählt er mit einem Schuss seiner typischen Selbstironie. „Als ich die medizinischen Checks absolvieren musste, um meine Lizenz zu bekommen, haben sie unzählige Untersuchungen durchgeführt. Ich hatte das Gefühl, sie haben nur eine Ausrede gesucht, um zu sagen: ‚Sorry, du kannst es nicht’. Als sie meinen Kopf untersucht haben, meinte ich zu ihnen: ‚Hey Jungs, ich habe bei dem Unfall meine Beine verloren, aber nicht meinen Kopf!’“

Doch nicht überall war man skeptisch – in München etwa empfing man Zanardi mit offenen Armen. „Ich hatte das Glück, dass ein großartiges Unternehmen wie BMW an diesem Projekt interessiert war. Sie hatten großes Interesse daran, etwas zu tun, das darüber hinaus ging zu zeigen, wie technisch fortschrittlich ihre Methoden und wie gut ihre Autos sind. Es ging darum, was ein Mensch braucht. Und der Rest ist Geschichte – nun sind wir hier, wo wir sind.“

BMW 320i und BMW 320si – ETCC und WTCC

Die Geschichte begann 2003 mit dem BMW 320i. Gemeinsam mit BMW Motorsport und dem BMW Team Italy-Spain der Tourenwagenlegende Roberto Ravaglia (ITA) plante Zanardi den Start beim Saisonfinale der Tourenwagen-Europameisterschaft ETCC in Monza (ITA). „Zunächst dachte ich, dass ich alles mit meinen Händen machen muss. Bei dem ersten System bremste ich mit einem Ring am Lenkrad, Gas gab ich über einen weiteren Ring und mit der rechten Hand bediente ich die H-Schaltung. Mit den Fingern bediente ich die Kupplung, einen Knopf oben auf dem Schalthebel. Gelenkt habe ich praktisch nur mit dem Handballen“, erinnert er sich. „Das war definitiv zu viel. Als ich nach dem ersten Test zurück an die Box kam, sagte ich zu den Jungs: ‚Ich habe so viel zu tun, ich rotiere mit Armen und Händen – aber wenn ihr mir noch einen kleinen Besen zwischen die Zähne steckt, könnte ich nebenbei noch das Cockpit saubermachen.“

Also schlug Zanardi vor, auch seine Beinprothese zu nutzen: „Die Ingenieure waren etwas skeptisch, aber ich war mir sicher, dass ich genug Kraft auf das Bremspedal ausüben kann, wenn meine Beinprothese daran befestigt ist und ich sie über die Bewegung meiner Hüfte nach unten drücke. Wir mussten also nur ein Bremspedal entwerfen, an dem meine Beinprothese dauerhaft befestigt werden kann. Das erwies sich als sehr effiziente Lösung. Schon beim allersten Test merkte ich, dass ich nicht nur den nötigen Druck ausüben kann, sondern war überrascht, wie gut ich ihn dosieren und wie gut ich das Bremspedal fühlen konnte.“

Das System war gefunden: Gas geben über einen Ring am Lenkrad, Bremsen via Beinprothese und Bremspedal, Betätigen der H-Schaltung mit der rechten Hand. Dieses System kam dann auch in den Rennen zum Einsatz. 2003 und 2004 in der ETCC und dann von 2005 bis 2009 in der FIA Tourenwagen-Weltmeisterschaft WTCC, in der Zanardi im BMW 320i und BMW 320si insgesamt vier Siege feierte. Über die Jahre wurde das System natürlich kontinuierlich optimiert und effizienter gestaltet.

BMW Z4 GT3 – Blancpain GT Series

Nachdem er sich ab 2010 für mehrere Jahre ausschließlich auf seine zweite Leidenschaft, das Paracycling, konzentriert hatte, gab Zanardi 2014 sein Comeback im Rennsport. Gemeinsam mit Ravaglias Team trat er in der Blancpain GT Sprint Series an, nun im BMW Z4 GT3. „All die Dinge, die wir für den BMW 320i entwickelt haben, haben wir in den BMW Z4 GT3 übernommen. Das hat alles perfekt funktioniert“, so Zanardi. Einer der wenigen Unterschiede: Die Gänge wechselte er nun nicht mehr per H-Schaltung, sondern über Schaltwippen am Lenkrad.

Doch dann brachten die Umstände einen weiteren großen Entwicklungsschritt mit sich: 2015 trat Zanardi gemeinsam mit Timo Glock (GER) und Bruno Spengler (CAN) bei den 24 Stunden von Spa-Francorchamps (BEL) an. Nun teilte er sich das Cockpit mit anderen Fahrern – und die BMW Ingenieure standen vor der Aufgabe, den BMW Z4 GT3 so zu modifizieren, dass er sowohl von Zanardi als auch von körperlich nicht beeinträchtigten Piloten gefahren werden kann. Heraus kam eine „sehr, sehr clevere Lösung“, wie Zanardi sagt.

„Ich habe den Ingenieuren in München meine Beinprothese gezeigt, die ein Hohlrohr ist, und vorgeschlagen, dass wir das Bremspedal durch ein System ersetzen könnten, bei dem eine Art Stift in die Prothese hineingleitet“, berichtet der Italiener. „Sie haben die Idee aufgegriffen und für mich ein sehr dünnes Bremspedal entwickelt, das ganz rechts in der Pedalbox angebracht wurde. Timo und Bruno bedienten die normalen Gas- und Bremspedale in der Mitte der Pedalbox.“

Die beiden Bremspedale waren miteinander verbunden und bewegten sich simultan. Zudem wurde das Kupplungspedal komplett aus der Pedalbox entfernt und durch ein Clutch-by-Wire-System ersetzt. Dieses System wurde über zwei Kupplungswippen gesteuert. Statt des Kupplungspedals wurde auf der linken Seite der Pedalbox eine Fußstütze für Zanardi angebracht, die seinem Körper beim Bremsen zusätzlichen Halt gab. Vollkommen neu war in Spa auch Zanardis Lenkrad. Es basierte auf dem, das er zuvor bereits im BMW Z4 GT3 genutzt hatte, wurde jedoch in vielen Bereichen optimiert.

BMW M6 GT3

Als Zanardi 2016 sein Debüt im BMW M6 GT3 bestritt, wurde das System noch weiter verbessert. Der Kupplungsaktuator wurde durch eine vollautomatische Fliehkraftkupplung ersetzt, die ZF als Premium Partner BMW M Motorsport entwickelt hat. Diese öffnet und schließt bei bestimmten Drehzahlen automatisch und muss nicht mehr vom Fahrer betätigt werden. Für Zanardi hat das System den großen Vorteil, dass er nicht auch noch mit einer seiner beiden Hände einen Kupplungshebel bedienen muss.

Doch nicht nur deshalb ist Zanardi von der Fliehkraftkupplung begeistert: „Es ist erstaunlich, wie gut dieser Mechanismus funktioniert. Diese Kupplung ist äußerst zuverlässig. Die Abnutzung ist minimal, und von daher gibt es mit dieser Lösung weniger Probleme als mit einer Standardkupplung. Seit wir sie ins Auto eingebaut haben, hat sie ihren Job für uns perfekt erledigt. Wenn du nach dem Boxenstopp wieder losfährst, ist es unmöglich, den Motor abzuwürgen. Und es ist auch egal, ob die Reifen kalt oder warm sind. Wann immer du losfährst, ist diese Kupplung in der Lage, den Grip zu kontrollieren – wahrscheinlich besser als ein Standardsystem.“

Zanardis Debüt im modifizierten BMW M6 GT3 wurde ein großer Erfolg: Beim Saisonfinale der Italian GT Championship in Mugello (ITA) feierte er den viel umjubelten Sieg im Sonntagsrennen.

BMW M4 DTM und BMW M8 GTE

„Das System, das wir zu diesem Zeitpunkt hatten, erlaubte mir, schnell zu sein, auch über einige Runden. Aber ehrlich gesagt: Es war wirklich schwierig, länger im Auto zu sitzen, um meinem Team auch über die Distanz eines 24-Stunden-Rennens eine echte Hilfe zu sein“, räumt Zanardi ein. Denn da er keine Beine hat, fehlen ihm wichtige Gliedmaßen, die durch die Blutzirkulation helfen, den Körper zu kühlen. Zudem lassen die eng sitzenden Schäfte seiner Beinprothesen keinerlei Transpiration zu: „Jedes Mal, wenn ich aus dem Auto gestiegen bin, war ich wie durchgebacken.“

Zanardi war klar: Ohne Beinprothesen würde er wesentlich länger fahren können und sich im Auto auch wohler fühlen. Also setzten er und die BMW M Motorsport Ingenieure sich in München zusammen und hatten die Idee zu einem vollkommen neuen System: einem System, mit dem Zanardi alles mit den Armen und Händen machen kann. 2003 war dies aufgrund der H-Schaltung im BMW 320i noch ein Problem. Doch dank der modernen Getriebe in heutigen GT-Rennwagen und der nun etablierten Fliehkraftkupplung boten sich ganz neue Lösungswege. Diese wurden zunächst im BMW M6 GT3 getestet und hatten ihre erste erfolgreiche Bewährungsprobe bei Zanardis Gaststart im August 2018 im BMW M4 DTM in Misano (ITA). All dies diente einem Ziel: Zanardis Start im BMW M8 GTE bei den 24 Stunden von Daytona.

Das Bremspedal wurde durch einen Bremshebel ersetzt, den Zanardi mit seinem rechten Arm nach vorn drückt. Dieser ist auf dem Kardantunnel montiert und mit der Bremse verbunden. Gas gibt Zanardi über einen Gasring am Lenkrad, überwiegend mit der linken Hand. Über eine Schaltwippe am Lenkrad kann er die Gänge wechseln. Gleichzeitig ist aber am Bremshebel ebenfalls ein Schalter angebracht, mit dem er beim Anbremsen von Kurven herunterschalten kann.

Die körperlichen Probleme, mit denen er in der Vergangenheit zu kämpfen hatte, sind für Zanardi mit dem Handbremssystem im BMW M8 GTE kein Thema mehr. „Wenn es das Reglement zulassen würde, könnte ich jetzt ein 24-Stunden-Rennen auch allein bestreiten“, sagt er lachend. „Denn ohne Beinprothesen fühle ich mich im Auto richtig wohl. Natürlich ist es etwas komplizierter, weil ich mit meinen Armen und Händen so viele verschiedene Dinge tun muss – aber aus körperlicher Sicht ist es ein Unterschied wie Tag und Nacht.“

Die Leidenschaft steht über allem

Von den ersten Entwürfen 2003 bis zum Handbremssystem im BMW M8 GTE – die Entwicklung steht im Zanardi-Projekt nie still. Dass es ihm nun möglich ist, einen GT-Rennwagen ohne Prothesen zu steuern, sei für ihn schon wie „das Rennen zu gewinnen“. Ohne die unermüdliche Arbeit der BMW M Motorsport Ingenieure sei dies aber alles nicht möglich gewesen, betont Zanardi: „Natürlich braucht es das Können und die Anstrengungen – doch mehr als alles andere braucht es die Leidenschaft. Wenn die Ingenieure die Arbeit mit nach Hause zu ihren Familien nehmen, dann zeigt es, mit welcher Leidenschaft sie ans Werk gehen. Was wir jetzt haben, ist das Ergebnis enormer Hingabe und einer Menge Leidenschaft, gepaart mit einem immensen Fachwissen.“

Mit dem Handbremssystem im BMW M8 GTE eröffne sich zudem „eine neue Dimension“, betont er. „BMW hat hier wieder eine echte Innovation eingebracht. Denn dieses System funktioniert auch für andere. Jeder, der zwar seine Beine nicht nutzen kann, aber zwei Arme hat, könnte dieses Auto fahren.“

Als er nach seinem Unfall wieder Rennen fahren wollte, war die Skepsis groß. Dies wäre heute anders – und daran haben Zanardi und BMW M Motorsport großen Anteil: „Es war ein langer Weg, aber ich glaube, dass wir mit dem, was wir erreicht haben, auch anderen Menschen neue Möglichkeiten eröffnet haben. Niemand stellt mehr in Frage, ob ein Behinderter Rennen fahren kann. Denken Sie an Frederic Sausset: Ihm wurden beide Beine und beide Arme amputiert, und er ist 2016 bei den 24 Stunden von Le Mans angetreten. Oder an Billy Monger. Alles, was die Leute heute wissen wollen, ist, wie gut du als Fahrer bist. Behinderungen sind ihnen egal, denn sie wissen, dass man diese mit speziellen Lösungen überwinden kann.“

Alessandro Zanardi Bildergalerie

Alessandro Zanardis Fahrsysteme im Überblick

BMW 320i und BMW 320si (2003-2009): Modifiziertes Bremspedal, auf dem Beinprothese fixiert wird; Lenkrad mit Ring zum Gas geben; Schaltung über H-Schalthebel mit rechter Hand

BMW Z4 GT3 – Blancpain GT Series (2014): Modifiziertes Bremspedal, auf dem Beinprothese fixiert wird; Lenkrad mit Ring zum Gas geben; Schaltung über Schaltwippen am Lenkrad

BMW Z4 GT3 – 24h Spa (2015): Neues, sehr schmales Bremspedal, das zusätzlich in der Pedalbox angebracht wird und wie ein Stift in die Beinprothese hineingleitet; Lenkrad mit Ring zum Gas geben; Schaltung über Schaltwippen am Lenkrad, Clutch-by-Wire-System mit Kupplungswippen

BMW M6 GT3 (2016): Schmales Bremspedal analog 24h Spa; Lenkrad mit Ring zum Gas geben; Schaltung über Schaltwippen am Lenkrad; neu entwickelte Fliehkraftkupplung

BMW M4 DTM und BMW M8 GTE (2018-2019): Handbremshebel zum Bremsen; Lenkrad mit Ring zum Gas geben, Hochschalten über Wippe am Lenkrad, Herunterschalten über Knopf am Bremshebel, Fliehkraftkupplung

[Quelle, Bilder: BMW]